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Gunter Cornehl 2015

Bedeutung der Swing-Jugend in der Hamburger NS-Zeit

 

Klar ist, dass Hamburg Ausgangspunkt und Hochburg der Swing-Bewegung im damaligen "Deutschen Reich" war. Dies belegen eine Reihe von "amtliche" NS-Quellen.
 
Unklar ist die Bedeutung und der Verbreitungsgrad. Mit Sicherheit können wir davon ausgehen, dass es eine Minderheit war. Aber, wie bedeutend war diese Minderheit? Vielfach wurde und wird angenommen, dass es nur eine kleine Gruppe von Jugendlichen aus einer bürgerlichen, eher gehobenen Bildungsschicht war. Letztlich sind wir hier auf Zeitzeugen und deren Einschätzungen angewiesen, weil es "amtliche" Quellen nur vereinzelnd bezogen auf einige Ereignisse gibt. Aber auch bei den Einschätzungen der Zeitzeugen ist Vorsicht geboten, weil ja die verschiedenen Gruppen von Swing-Jugendlichen so gut wie keinen Kontakt untereinander hatten. Umso erstaunlicher ist übrigens die Tatsache, dass es eine ganze Reihe von gemeinsamen Kultursegmenten gab -auch, wenn die im einzelnen variierten. Von der gemeinsamen Musik, über Tanzschritte und Gesten, bis zur gemeinsamen "Sprache" und den Vorlieben für ein bestimmtes Outfit (Kleidung, Haare, Lippenstift) finden wir alle Elemente für eine eigenständige kulturelle Identität. Vgl dazu z.B.                                     
 
 
 
Hier kommt  insbesondere Günther Discher zu Wort, eine zentrale Figur der damaligen Hamburger Swingszene, der aber leider noch kurz vor dem Beginn der Interviews zu unserem Filmprojekt Hamburger Zeitzeugen berichten - 1933 bis 1947 verstorben ist.
 
Was wissen wir? In jedem Hamburger Stadtteil gab es jeweils eine Reihe von gut besuchten Tanzlokalen in denen regelmäßig Swing gespielt wurde. Die feineren, wie das "Café Heinze" und die für die "Prolos", wie das "Bismarck", von dem uns Arthur Zwintscher, einer unserer Zeitzeugen im Film, erzählte. Es gab die privaten Treffs, wie Zwintschers improvisierter, bei dem Kerzen aus der Kirche "geholt" wurden und Tische mit Stühlen aus dem Café von nebenan. Oder Schröders "Wir machten das Clubhaus zur Swinggemeinde". Und anders als von einigen unserer Zeitzeugen im Film erzählt, gab es auch regelrechte Partys, bei denen es durchaus ganz munter zur Sache ging, vgl. Gunter Lust: "The Flat Foot Floogee. Erlebnisse eines Hamburger Swingheinis von 1936-1966". Aus seinem Buch haben wir  2 Fotos für gesprochenen Kommentar in unserem Film generiert. Vgl auch                                               
 
 
 
Dann fanden private Bälle statt, wie der am 2.3.1940 im Curiohaus mit mehr als 400 jugendlichen Teilnehmern.  
Vgl. dazu                                          
 
 
Hier findet sich auch vertiefendes Material zum Thema. Von Zeitzeugen wissen wir, dass in Hamburger Tanzschulen Swing-Platten aufgelegt wurden, wenn der Tanzlehrer gerade nicht im Raum war und beim Wiederkommen drückte er dann beide Augen zu, ehe es wieder mit Foxtrott weiterging.
 
Unser Kronzeuge für die Swing-Jugend ist Uwe Storjohann, weil er eigenes Erinnern und Erleben in besonderer Weise mit analytischer Betrachtung verbindet. Ihn fragte ich 2014 nach seiner Einschätzung zur Verbreitung der Swing-Jugend in Hamburg. Er meinte, es dürften wohl nicht viel mehr als 2000 aktive Swing-Jugendliche gewesen sein. Allerdings sei die Faszination des Swing enorm gewesen. Er würde heute sagen, dass fast alle die neue Musik irgendwie mochten, "90 % der Hitlerjugend waren dem Swing sicher nicht abgeneigt", nur waren sie fest und mehr oder weniger begeistert integriert in das NS-System, so dass dies nicht zum Tragen kam. Nimmt man diese Einschätzung, wird es neben den aktiven wohl noch eine größere Zahl von passiven Sympathisanten gegeben haben, die nur gelegentlich Swing hörten und wohl mehr danach wippten als tanzten.
 
Wir können resümmieren, dass ein ganz beträchtlicher Teil, wenn auch insgesamt keineswegs die Mehrheit, der Hamburger Jugend der neuen Swing-Musik aktiv oder passiv zugetan war und sich damit im Gegensatz zum NS-Wertesystem befand. Dies hatte allerdings in der repressiven NS-Gesellschaft kaum Konsequenzen. Der passive und kreative Widerstand, wie bei unseren Swing-Zeitzeugen Petersen, Zwintscher und Storjohann im Film, bleibt wohl eher Einzelfällen vorbehalten. Das Verhalten der aktiven Swings, die Uwe Storjohann für Hamburg auf 2000 schätzte, ist aber durchaus Giordanos “Facetten des Widerstandes” zuzurechnen.
 
Eine interessante Zusammenfassung zum Thema findet sich in der Seminararbeit der Universität Lüneburg von Jessica Franke aus dem Jahr 2007 als pdf-Datei
 
 
 
Erstaunlich für mich sind die Parallelen zu unserem Aufbegehren gegen die spießige Adenauer-Republik in der 68er Protestbewegung mit der Musik der Beatles und der Rolling Stones. Wie ungleich leichter aber hatten wir es, unseren Weg der Abgrenzung und der eigenen kulturellen und sozialen Identitätsfindung zu gehen.

 

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